Mitgliederportrait Lion C. Lau
Eine dekorative Lichterkette am Boden weist mir vom Flur den Weg in Lions gemütliches Wohnzimmer – seine Schreibhöhle, wie er es nennt. An der Wand links neben seinem Schreibtisch fällt mir ein weitverzweigtes und liebevoll aufbereitetes Figuren-Chart auf. Auf jeder Charakterkarte finden sich Name, Stichpunkte zu Innenleben, Motivation oder Biografie sowie eine Illustration der Figur. Es handelt sich um ein Moodboard für einen Fantasyroman, an dem Lion gerade schreibt und der einmal 500 Seiten umfassen soll – ein echtes Herzensprojekt.
Davon hat Lion einige und das, obwohl er sich während unseres Gesprächs mehrfach als faul bezeichnet. Allerdings erscheint mir diese Selbstdiagnose nicht ganz passend für einen, der immer parallel an mehreren Projekten arbeitet, seien es Drehbücher für die SOKO Leipzig und den Polizeiruf, für die er akribisch recherchiert, ein Animationsserienkonzept, die Einreichung seines Diplomfilms bei Kurzfilmfestivals, die Vorbereitung auf sein Regiedebüt, sein Engagement im Rahmen der Queer Media Society oder besagter Fantasyroman … Aber alles der Reihe nach.
„Mit acht Jahren habe ich angefangen, in einem sehr fledderigen Notizbuch mit Bleistift und noch sehr unbeholfen meine ersten Geschichten zu entwerfen. Mein vorlautes Credo lautete: ‚Ich werde Autor‘, ohne zu wissen, was es bedeutet. Ich wusste nur, ich mag es, Märchen und Abenteuergeschichten zu erfinden“, erzählt er. So sei es für ihn schnell klar gewesen, dass er eines Tages am Literaturinstitut in Leipzig studieren wollte. Nach dem Schulabschluss bewarb er sich dort jedes Jahr aufs Neue „sehr erfolglos“ und heftete die Absageschreiben fein säuberlich ab, selbst als er bereits an der Universität Eichstätt-Ingolstadt Journalistik, Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte studierte. „Eine Notlösung“, wie er sagt, denn Bayern bedeutete für ihn einen Kulturschock.
So verwundert es nicht, dass er alles daransetzte, von dort wegzukommen. Mit 21 bewarb er sich an der Filmuniversität Babelsberg für den Studiengang Drehbuch, sinnierte auf der Busfahrt zur Eignungsprüfung bereits über seine bevorzugte Wohngegend in Potsdam und musste dann dank eines Blackouts vor den Dozenten feststellen, dass es für die Realisierung dieses Berufswunsches doch noch etwas zu früh war. In der Folge setzte er sein Journalistikstudium in Bayern fort, auch wenn er den Gedanken ans Drehbuchschreiben nie ganz aus seinem Kopf verbannen konnte.
Nach dem Studium ging er ans Theater Ingolstadt – eine Entscheidung, die sich als Sackgasse entpuppen sollte. „Mein damaliger Intendant hat mir nach drei Jahren Regieassistenz ganz klar gesagt, dass er mir keine eigene Regie geben wird.“ Grund genug zu kündigen, da Lion keine Weiterentwicklungsmöglichkeiten für sich sah. Nach anfänglicher Verzweiflung erinnerte ihn jedoch eine Freundin an seinen ursprünglichen Plan, Drehbuch studieren zu wollen.
Daraufhin bewarb er sich an der Filmakademie Baden-Württemberg und erhielt eine Zusage. Hier nahm er den Quereinstieg ins Projektstudium, belegte unter anderem das von Arte und dem SWR geförderte Programm Atelier Ludwigsburg-Paris und sättigte im Schnellverfahren seinen Nachholbedarf in puncto Dramaturgie. Sein Studiengang hieß Serien-Producing und war so ausgerichtet, dass Serienproduzent*innen mit ausgewählten Drehbuchautor*innen gemeinsam Stoffe entwickelten. Pro Abschlussjahr gab es ein Budget von 12.000 Euro als Grundstock, das immer an die Produzent*innen gekoppelt war. Lion war der erste Drehbuchautor, der für seine Serie „Catharsis“ ein eigenes Budget erhielt.
Die Diplomprüfung erwies sich für Lion als Eintrittskarte zu einem ersten Engagement als freiberuflicher Drehbuchautor. Grund hierfür war sein Prüfer, der mehrfach ausgezeichnete Drehbuchautor Stefan Dähnert. „Er meinte nach der Prüfung, dass er selten so ein gutes Diplomdrehbuch gelesen hätte und ob ich eine Visitenkarte hätte, er würde mich gern mal anrufen, um mit mir zusammenzuarbeiten.“ Dass es je dazu kommen würde, damit rechnete Lion nicht. Doch nur 24 Stunden später rief ihn Dähnert vom Auto aus an und fragte ihn, ob er mit ihm arbeiten wolle. Dies mündete schließlich in einem gemeinsamen Drehbuch für den Polizeiruf 110. „Es waren seine Hilfsbereitschaft und seine Lust, einen jungen Autor zu fördern. Dafür bin ich ihm wirklich unendlich dankbar“, so Lau.
Dem folgte ein Solodrehbuch für die SOKO Leipzig und plötzlich fand Lion sich im Krimigenre wieder, obwohl er sich einst geschworen hatte, niemals Krimis zu schreiben. Es sei nun mal das in Deutschland am häufigsten gedrehte Format und damit eine gute Einnahmequelle.
Auf die Frage, welches Genre er bevorzuge, antwortet er prompt: „Fantasy und Science Fiction“ – beides Formate, die es in Deutschland nicht wirklich gibt. Thriller und lakonische Komödie reizen ihn ebenfalls. Die einzige Möglichkeit für einen deutschen Drehbuchautor, derartige Stoffe zu verwirklichen, sieht er momentan bei den großen Streamingdiensten. Dort könne man anders erzählen und zeigen, dass die deutsche Filmbranche mehr kann als nur Telenovelas, Daily Soaps und Kriminalfälle. Außerdem erreiche man hier das junge Publikum.
Dieses „Anderserzählen“ bezieht Lion auch auf die Möglichkeit, diversere Geschichten zu transportieren. Nicht umsonst engagiert er sich seit ca. einem halben Jahr in der Queer Media Society (QMS), einem Netzwerk aus LSBTI*-Medienschaffenden, in dem fast alle Filmgewerke vertreten sind und dessen Ziel es ist, die Repräsentanz von queeren Persönlichkeiten vor und hinter der Kamera sowie in den Geschichten, die erzählt werden, zu erhöhen. Die Forderung lautet, sieben Prozent aller Medienproduktionen mit queeren Themen und Menschen zu besetzen, um so die Vielfalt in unserer Gesellschaft adäquat abzubilden.
Für die QMS war Lion in diesem Jahr unter anderem auf der Leipziger Buchmesse aktiv und saß beim Max Ophüls Preis gemeinsam mit Rosa von Praunheim und anderen auf einem Panel, um einen queeren Serienpitch zu diskutieren. Gemeinsam mit der QMS und dem Filmverband Sachsen organisiert er für den 17. Mai 2020 (Internationaler Tag gegen Homo- und Transphobie) im Rahmen der FILMACHSE ein Werkstattgespräch zum Thema „Out of Klischee: Die Queere Revolution in der deutschen Filmlandschaft“. Mit Blick auf die sächsische Film- und Fernsehlandschaft geht es Lion mit dieser Veranstaltung darum, alle Departments an einen Tisch zu bringen und zu überlegen, wie wir es schaffen, das Thema Diversity nicht nur im Bereich Arthouse oder um 0:15 Uhr versacken zu lassen, sondern es in den Mainstream zu bringen. Es sei ihm wichtig, Denkprozesse auszulösen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Dann fügt er hinzu: „Manchmal fühle ich mich wie ein wandelndes Awareness-Programm für Heteropersonen.“ Gelegentlich habe er schon die Sorge, dass man ihn nicht mehr mit seinen Stoffen, sondern nur noch mit seiner Queerness assoziiert, „was schwierig sein kann, weil ich queer bin,“ denn bei seiner Geburt wurde Lion das Geschlecht weiblich zugeschrieben. Das H. in seinem Namen – es steht für Hannah – erinnert noch daran. „Aber meine Queerness ist nicht das, was meine Arbeit ausmacht und gleichzeitig ist meine Arbeit doch queer“, denn er hat sich geschworen, kein einziges Drehbuch mehr zu verfassen, das frei von LSBTI*-Figuren ist. Zwei Projekte hat er deshalb bereits absagen müssen.
Es nerve ihn, stets begründen zu müssen, weshalb diese oder jene seiner Figuren homosexuell oder transgender ist. „Warum muss da immer etwas handlungsimmanentes drin liegen, während ein Heteromensch einfach hetero sein darf, ohne dass es sich irgendwie auf die Handlung auswirkt?“ Überdies sei Geschlecht nichts, was man an Äußerlichkeiten ablesen kann, sondern etwas, das man erfragen muss, denn Geschlechtsidentität ist nichts Sichtbares.
Ich frage Lion, ob seine Affinität zum Mainstream darin begründet liegt, hier durch das Einweben von LSBTI*-Charakteren dazu beizutragen, dass Queerness zu einer gesellschaftlichen Normalität wird. Es sei ein netter Nebeneffekt, auf diese Weise als Multiplikator zu wirken, antwortet er. Beim Begriff ‚Mainstream‘ hat er jedoch vor allem jene Stoffe und Formate vor Augen, die vorwiegend bei Netflix und Co. zu sehen sind. Darin fühlt er sich zu Hause. „Ich mag das comichafte Erzählen, das Überzeichnete und Überhöhte. Wenn Wes Anderson, Tim Burton und Tarantino ein Kind bekommen würden, das wäre dann wahrscheinlich ich.“ Er liebt Mangas und Animes, schaut sich von deren Charakterzeichnungen viel ab. Mit dem aus Barbados stammenden Künstler Rivenis hat er das Konzept für eine Animationsserie entwickelt, das er bei der MDM eingereicht hat. Die kommentierte es mit den Worten: „Der Stoff ist ein Wagnis.“
Lions Ambitionen scheinen tatsächlich passender für Netflix und Co., denn nur dort gibt es derzeit solche Positionen wie die des Showrunners. „Das ist die Position, in die ich gern möchte, selbst, wenn es bedeuten sollte, dass ich sie für die deutsche Serienlandschaft erst erfinden muss,“ gesteht er. Beim Dreh des 15-minütigen Piloten zu seiner Diplomserie „Catharsis“ hat er sich dahingehend schon einmal ausprobieren können. Als „Art Director“ war er nicht nur für das Drehbuch zuständig, sondern erarbeitete die Szenen gemeinsam mit dem Regisseur, die Art der Lichtsetzung mit dem Beleuchter, den Sound mit dem Musiker etc. „Ich fand es spannend, zu erleben, wie so etwas funktionieren kann, dass ein Regisseur und ein Creator auf Augenhöhe am Set beieinander sind und bis zum Schnitt, bis zum Color Grading hin alles auf Konsensebene besprechen.“ An der Rolle des Showrunners reizt ihn besonders, einen ganzen Kosmos entwerfen zu können und darüber zu wachen, dass er von A bis Z in sich schlüssig ist und bleibt.
Der 2017 gedrehte Serienpilot harrt immer noch einer Premiere und so plant Lion, ihn nun bei Kurzfilmfestivals einzureichen. Das Drehbuch für einen neuen Kurzfilm liegt bereits fertig auf dem Schreibtisch. Eine lakonische Komödie soll es werden, bei der Lion sich vorgenommen hat, auch Regie zu führen. Am liebsten würde er damit bereits diesen Sommer starten. Die visuelle Erzählweise des Films steht ihm schon sehr genau vor Augen. Auch hinsichtlich der Locations und des Wunsch-Casts hat er sehr konkrete Vorstellungen. Nun fehlt ihm nur noch eine Produktionsfirma im Hintergrund. Leider reißen sich Produktionsfirmen nicht unbedingt um Kurzfilmstoffe. Das Projekt also komplett in Eigenregie angehen?
Eigentlich stellt dieser Kurzfilm für Lion nur die Vorstufe zu einem Langspielfilm dar – ein Roadmovie, dessen Drehbuch ebenfalls schon fertig ist. Mit dem Kurzfilm möchte er an Produzenten herantreten, um ihnen zu zeigen, dass er ein visuelles Vorstellungsvermögen besitzt und Charaktere inszenieren kann, um so deren Vertrauen für den Langspielfilm zu gewinnen. Auch wenn die Genres sich unterscheiden, so seien sich beide Filmideen doch in der Tonalität und dem Kosmos, den sie beschreiben, ähnlich.
Lion steckt voller Visionen. Die Kehrseite ist: „Ich habe seit Ewigkeiten keinen Urlaub und keine freien Wochenenden mehr gehabt“, seufzt er. Doch seine sprudelnden Ideen und selbstdefinierten Ziele treiben ihn an. „Auf dem Weg dahin werde ich bestimmt fünfzehn Mal scheitern, aber das ist vollkommen in Ordnung“, lacht er.
Autorin: Susanne Seifert