Von einem, der auszog, die Wahrheit zu dokumentieren
Als Tamer Alawam 2012 von einer Granate getötet wurde, hinterließ er über 300 Stunden unverarbeitetes Filmmaterial von der syrischen Revolution – Bilder mit dem Anspruch, Syrien der Welt von innen zu zeigen.
Omar Shalash und Robert Dobe, Filmemacher und Bekannte Tamers nahmen damals das hinterlassene Material an sich und überlegten, angetrieben von dem Gefühl der Verantwortung, was sie mit dem Material tun sollten und welchen Sinn Tamers Tod hatte. Diesen Zwiespalt zwischen Ohnmacht und persönlicher Verpflichtung zum Handeln erörtert der Dokumentarfilm „Starting with Fragments“, produziert von der Dresdner Filmproduktionsfirma ravir film GbR.
„Zwischendrin habe ich mich schon immer mal gefragt, ob und wann wir denn je das Ende dieses Projektes erreichen werden. Man fühlt sich, als wäre man einen Marathon gelaufen“, lacht Uwe Nadler gut gelaunt. Der Produzent und Filmemacher sitzt gemeinsam mit seiner Kollegin Dorit Jeßner an seinem Schreibtisch, vor ihnen auf dem Bildschirm eine Excel-Tabelle mit unzähligen Namen – eine Liste für die interne Premierenfeier ihres ersten Langdokumentarfilms.
Über sechs Jahre hat es gedauert – von den ersten gemeinsamen Gesprächen bis zum fertigen Film. Angefangen hat es, als Uwe Nadler die beiden Regisseure Robert Dobe und Omar Shalash auf dem MDM-Nachwuchstag Kontakt 2013 kennenlernte. Damals standen die beiden Regisseure vor großem Publikum, bestückt mit Tamers Festplatte mit Originalfootage, aber ohne Plan, was damit anzufangen sei: „Tamer hatte vor, mit dem Material einen eigenen Film zu produzieren. Robert und Omar wollten das auch nicht für ihn fortsetzen, das war Tamers Projekt. Aber sie fühlten eben auch, dass man das Material nicht einfach in der Schublade verschwinden lassen kann. Es ist Tamers Erbe“, erklärt Uwe. Wie genau man das in eine filmische Form bringen kann, das konnten sich zu diesem Zeitpunkt weder die Regisseure noch das Publikum des Nachwuchstages so richtig vorstellen. Trotzdem oder vielleicht auch genau deswegen war Uwe von der Geschichte berührt und fasziniert.
Ihn interessierte vor allem auch, wie man dieses komplexe Thema und die ungewöhnlichen Umstände sensibel angeht: „Für uns von ravir film stand natürlich die Frage im Mittelpunkt: Was ist damit zu tun? Inwieweit trägt man plötzlich eine moralische, aber auch gesellschaftliche Verantwortung für dieses Material und wann wird diese Verantwortung zur Bürde? Wie kann man das Material verwenden, um einen anderen Einblick in ein so schwieriges Thema wie den syrischen Bürgerkrieg zu gewinnen? Diese Flut der Bilder, die man tagtäglich zu sehen bekommt, sie lässt einen abstumpfen. Wie kann man dem entgegenwirken? Und wie kann man diesen einmaligen persönlichen Zugang zur Thematik durch die Person Tamers eben dafür nutzen?“, sinniert Uwe.
Aus diesen Fragen heraus entwickelte sich die Parallelstruktur des Films. Sowohl in der Regie als auch in der Story entschied man sich dafür, zweigleisig zu fahren: Omar, als enger Freund Tamers und mit palästinensischen Wurzeln, nähert sich dem Thema in einer subjektiveren, intimeren Art als Robert, der, als Deutscher und eher entfernter Bekannter Tamers, einen ausgedehnteren, eher gesellschaftsrelevanten Ansatz verfolgt.
Doch bis aus diesen ersten Ideen letztendlich ein fertiger Film werden sollte, mussten viele Hürden überwunden werden. Die Finanzierung war ein erster großer Punkt, den es dabei anzugehen galt.
„Es war das erste Projekt, dass wir als Produktionsfirma zum Teil über Crowdfunding finanziert haben“, erklärt Dorit. Und fügt hinzu: „Wir mussten viel dazulernen. Ein Crowdfunding braucht viel Vorbereitung. Man muss schon Monate im Vorfeld für das eigene Projekt werben, Informationen streuen, Netzwerke aufbauen.“
Ravir film entschied sich für die internationale Crowdfunding-Plattform Indiegogo, da sich dank des internationalen Stabs hier die größten Möglichkeiten einer weitreichenden Streuung boten. Das Ziel, die ersten Kosten der Vorproduktion über die Gelder des Crowdfunding zu stemmen, schaffte das Team dank des großartigen Feedbacks und der Unterstützung der Crowd.
Mit diesem Vorschuss – nicht nur an finanziellen Mitteln, sondern auch an Vertrauen der potenziellen Zuschauerschaft – machte sich ravir film an die Akquise von Fördergeldern. Die Sächsische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien war die erste Förderung, die zusagte. Es folgten die Kulturstiftung Sachsen, die Kunststiftung Sachsen-Anhalt und die Mitteldeutsche Medienförderung. „Wir haben sehr viel Glück gehabt, dass an den richtigen Stellen Menschen saßen, die uns und unserem Projekt vertrauten. Die uns geholfen haben, Anträge und Drehbuch so zu gestalten, dass wir die für die Produktion nötige Finanzierung auch erhielten“, resümiert Dorit. Mit den nötigen finanziellen Mitteln ging es ab 2016 mit der Produktion in die Vollen.
„Das Thema des Films gab uns die Gelegenheit, auch Personen des öffentlichen Lebens zu den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen zu befragen. So kommen zum Beispiel der Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck sowie die Publizistin und Kriegsjournalistin Carolin Emcke zu Wort“, erklärt Dorit und Uwe ergänzt: „Robert hat sich zum Beispiel auch mit dem Gründer des »Zentrums für politische Schönheit«, Philipp Ruch, unterhalten.“
Die Dreharbeiten verliefen jedoch nicht reibungslos. Einige der geplanten Interviews konnten zum Beispiel gar nicht stattfinden. An dieser Stelle wird Uwe nachdenklich: „Es war eigentlich geplant, Tamers Bruder, der immer noch in Syrien lebt, zu interviewen, um so weitere persönliche Details über Tamer zu erfahren. Wir hatten ausgemacht, dass wir uns im Rahmen der Buchmesse in Kairo treffen. Die Flüge waren gebucht, alles war geklärt. Und dann, etwa eine Woche vor Abflug, endete plötzlich der Kontakt. Unser Interviewpartner ließ sich über keine der gängigen Kommunikationsmittel mehr erreichen. Wir haben viele Wochen in Ungewissheit zugebracht, bis sich circa zwei Monate später herausstellte, dass er vom syrischen Geheimdienst verhaftet worden war. Das ist ein Moment, durch den man begreift, in was für einer volatilen Situation sich die Menschen in Syrien befinden und was für Sprengstoff und Konsequenzen Themen dieser Art mit sich bringen.“ Tamers Bruder ist inzwischen wieder auf freiem Fuß, doch das Interview wurde nach diesem Vorfall abgeblasen.
Während der Dreharbeiten bestritten Uwe und Dorit nicht nur die Produktion, sondern auch die Kameraarbeit, waren also regelmäßig mit vor Ort. Im September 2017 ging das erste Rohmaterial dann in den Schnitt. Doch auch die Situation am Schnittplatz erwies sich als komplexe und zeitaufwendige Herausforderung. Das lag zum einen daran, dass sowohl die Regie als auch der Schnitt von Personen übernommen wurden, die in unterschiedlichen Städten leben und oftmals zusätzlich in anderen Projekten eingebunden waren. Ein weiterer Grund war, „dass hier alle hyperkorrekte Perfektionisten sind“, lacht Uwe. Tatsächlich durchlief der Film eine Vielzahl an Korrekturschleifen und dramaturgischen Überarbeitungen, bevor dann ab Oktober 2018 ravir-intern die Arbeiten an der Übersetzung, Farbkorrektur und Untertitelung begannen. Es folgten die Animationen für das Intro sowie einige Zwischensequenzen. „In unserem ursprünglichen Plan sollten weitaus mehr Animationen die Botschaft des Filmes stützen. Im Laufe der Produktion sind wir von dieser Idee abgerückt, da der Film auch thematisch eine Wendung genommen hat, die das Stilmittel an vielen Stellen überflüssig machte.“ Und auch der Name des Filmes musste geändert werden. In der Zwischenzeit war der ursprüngliche Titel „Beyond the Frame“ nämlich bereits von zwei TV-Serien aufgegriffen worden.
Im März 2019 war es dann soweit, der Film war offiziell fertiggestellt. Ab September 2019 wird „Starting with Fragements“ das erste Mal vor richtigem Publikum, vor Förderern, Freunden und Kollegen gezeigt. Und wie geht’s weiter? „Der Film soll natürlich zuallererst bei verschiedenenFestivals gezeigt werden. Zu diesemZweck haben wir eine Kooperation mit dem Festivalvertrieb aug&ohr abgeschlossen. Danach geht es an die TV-Auswertung“, erklärt Dorit.
Inzwischen hat ravir film außerdem zwei weitere Dokumentarfilme produziert. „Die Mission der Lifeline“, ein Film über den Dresdner Seenotrettungsverein gleichen Namens läuft seit Frühjahr 2019 erfolgreich in ausgewählten Programmkinos Deutschlands und wurde auf dem Dok.fest München zu einem der Publikumsfavoriten gewählt. Der zweite Film „Heading East – Abenteuer Transost“ ist eine Dokumentation zum ersten Self-Supported- Bikepacking-Rennen durch den wilden Osten Europas. Der Film wird ab Herbst bei zahlreichen Outdoor-Festivals zu sehen sein, unter anderem beim „Bergsichten“-Filmfestival in Dresden.
„Und gerade beantragen wir zusammen mit einem Dresdner Filmemacher Gelder für ein neues Dokumentarfilm-Projekt mit ökologischem Thema … Wir laufen offensichtlich gerne Marathon“, meint Uwe lachend.
Autorin: Steffi Rostoski